Maike Gräf, Thomas Putze, Detlef Waschkau – Sex. Stadt. Leben.
05.05. – 19.08.2017
Zurück zur ÜbersichtStadtluft macht frei. Das mittelalterliche, immerwährende Glücksversprechen verbindet sich mit ökonomischer Mechanik und lässt die Städte bis heute unaufhörlich wachsen. Weltweit leben über die Hälfte aller Menschen in der Stadt, in Europa sind es schon zwei Drittel.
Die Ausstellung in der Stern-Wywiol Galerie zeigt drei künstlerische Sichtweisen auf die Lebensform unserer Zeit. Maike Gräf, Thomas Putze und Detlef Waschkau entwickeln aus dem alten Bildhauermaterial Holz und der klassischen Figuration jeweils eine sehr eigene, dezidiert zeitgenössische Formensprache, in der sie die Grundthemen moderner Gesellschaften verhandeln. Sie finden ihre Motive im Spannungsfeld zwischen Massenkultur und Individualität, Freiheit und Begrenzung, Perfektion und Versehrtheit. Sie formen daraus drei Bildwelten, jede für sich schlüssig und jede im Kontakt mit den anderen – ein emotional und intellektuell aufregender Kommentar in der Stern-Wywiol Galerie zum 21. Jahrhundert als dem Zeitalter der Städte.
Maike Gräf schöpft aus großstädtischen Kunstformen wie Comic-Strip, Manga und Graffiti und verhandelt die klassischen Themen Leben, Liebe und Tod.
Thomas Putze kombiniert klassisch aus dem Holz geschnittene Holzfiguren mit Weggeworfenem und Unbrauchbarem und reflektiert gesellschaftliche Fragen wie Individualität, Konsum und Lebenssinn.
Detlef Waschkau erzählt in seinen farbigen Holzreliefs von der permanenten Transformation der Großstädte und erzeugt mit der Verbindung von strengem Rasterplan und Schnappschuss-Perspektive inhaltliche und formale Spannung.
Was macht die Eigenart eines Künstlers aus, woraus resultieren, abseits der verschiedenen Themen und Materialien, mit denen sie sich befassen, die Unterschiede in ihren künstlerischen Produkten?
Es ist, so meine ich, vor allem der Blick. Kunst macht uns immer wieder einen fundamental wichtigen Aspekt unserer Wahrnehmung deutlich:
Wir können nur subjektiv sehen – und eigentlich ist auch in allen anderen Sinneserfahrungen Objektivität unmöglich.
Für das menschliche Auge bemerkte schon Leonardo da Vinci, dass es rein technisch zum Sehen nur mäßig gut geeignet sei. Aus der modernen Wahrnehmungsphysiologie wissen wir heute, dass unser Gehirn am Seh-Prozess entscheidend beteiligt ist. Unser Gehirn vergleicht die durch das Auge hereinkommenden Informationen unablässig mit bereits gespeicherten und vor allem bewerteten Wahrnehmungserfahrungen. Das ist dann das, was wir zu sehen vermeinen. Vielleicht kennen Sie das, wenn Sie auf Reisen sind und einen Ort ganz unvorbereitet, ganz ohne Vorkenntnisse zum ersten Mal sehen. Dann sind wir völlig gefangen, euphorisch, fühlen uns irgendwie neu und jung. Leider sind solche Momente rar im Leben. Aber es gibt Abhilfe – die Kunst!
Zum Thema SEX.STADT.LEBEN präsentieren wir das Werk von drei Künstlern, die viele Gemeinsamkeiten haben. Maike Gräf, Thomas Putze und Detlef Waschkau arbeiten alle drei figurativ. Sie arbeiten mit dem Ausgangsmaterial Holz. Und sie arbeiten in der dritten Dimension. Ihr Thema ist der moderne Mensch mit all seinen Höhenflügen, Beschränkungen und Träumen. Das Ergebnis ihrer Arbeit ist höchst unterschiedlich. Das liegt in besonderem Maße auch an ihrem Blick, der dasselbe Thema in ganz anderen Facetten wahrnimmt und zu ganz anderen Bewertungen kommt.
Maike Gräf
Maike Gräfs Blick auf die Welt ist einer, der das große Ganze wahrnimmt. Im Dreiklang ihrer Themen Leben-Liebe-Tod interessiert sie sich für das, was sich nie ändert und doch immer neue Züge trägt. Ihre Figuren stehen über dem Alltag, sie haben eine mythische Dimension, ja, sind oft als Allegorien zu verstehen. Oft bezieht sich die Künstlerin auf kanonische Werke der Kunstgeschichte und nutzt sie, um auf heutige Fragen einzugehen.
Bsp. "Venus": bezieht sich auf das Gemälde „Geburt der Venus“ von Botticelli, dieses wiederum auf eine berühmte antike Skulptur. Sowohl die antike als auch die Renaissance-Venus sind Beispiele der Venus pudica, der schamvollen Venus. Maike Gräfs Venus übernimmt die klassische Pose, allerdings benutzt sie ihre Hände sehr aktiv. Sie weiß, was ihr guttut und sie tut es. Dabei ist sie zugewandt, freundlich, selbstbewusst, weder lasziv noch schamlos, will sich nicht verstecken. Die Venus steht historisch als Sinnbild der Schönheit und der geistigen Liebe. Bei Maike Gräf ist sie auch ein Sinnbild der weiblichen Liebe (und zu sich selbst, als Voraussetzung, andere zu lieben)
Formal gesehen ist Maike Gräfs Kunst dezidiert großstädtisch. Sie bezieht sich ganz selbstverständlich auf Manga, Comic, Graffiti, Expressionismus, Kubismus, wird in Europa ebenso verstanden wie in Asien, Amerika, Europa- Ihre Arbeiten sind gleichzeitig klassisch und alt.
Thomas Putze
Sein Blick gilt den vernachlässigten Details unserer Welt, dem Peripheren, dem Weggeworfenen, dem nutzlos Gewordenen. Und so ist er in der Materialwahl viel genügsamer als Maike Gräf. Er braucht keinen halben Baumstamm, er macht aus Allem Kunst. So gesehen ist Thomas Putze definitiv ein Künstler der Stadt, denn hier gibt es den vielfältigsten Müll. Er eignet sich die Welt aus einer, wenn man so will, demütigen Perspektive an. Seine Liebe gilt denen, die sich durchschlagen müssen im Leben, den Kämpfern und den Erfinderischen- Sein Thema ist der Mensch als soziales Wesen. Immer geht es um Interaktion, um das Verhältnis der Menschen zueinander (siehe "Empfänger"), die sich einen begrenzten Raum teilen müssen (STADT)
"24 Stunden... im Leben eines Kunden" kann verstanden werden als die verschiedenen Identitäten, die der Einzelne hat, wenn er als Konsument durch unsere riesige Waren-Wunder-Welt streift. Und, nicht zu vergessen, der wunderbare "Schneeleopard", der jedem Mann und vor allem jeder Frau ein Lächeln entlockt: Er will Aufmerksamkeit, will zeigen, was er zu bieten hat im Kampf der Geschlechter. Er gibt immer alles im Leben, schont sich nicht, und will doch nur das, was alle wollen, LIEBE
Maike Gräfs Blick gilt dem Allgemeinen, dem Überpersönlichen, dem Sinnbildlichen. Thomas Putze sucht in den kleinen Details nach dem Ausdruck für das große Ganze. Und Detlef Waschkau?
Detlef Waschkau
Er ist Bildhauer und Maler zugleich. Geboren 1961 in Hannover, ist er seit seinem Kunststudium in Berlin ebendort ansässig und regelmäßig auf langen Reisen unterwegs.
Er streift durch die Groß- und Megastädte der Welt, mit der Kamera im Anschlag und lässt sich überfluten von den Eindrücken auf den Straßen. Sein Blick sucht das Typische einer Stadt ebenso wie das Besondere. Selten fixiert er ein Detail und immer scheint es, als nähme er alles gleichzeitig wahr, die großen Strukturen ebenso wie die Einkaufstasche der Frau vor ihm auf dem Zebrastreifen. Zuhause im Atelier sichtet er Unmengen von Fotos und findet die Bilder, die seiner Absicht am nächsten kommen. Dann beginnt die Arbeit am Relief:
1. Auf die glatte Holzplatte trägt er wie auf eine Leinwand mit dem Pinsel eine abstrakte farbige Malerei auf - in intuitivem Gestus oder schon andeutungsweise die spätere Bildstruktur.
2. Dann legt er skizzenhaft die Zeichnung des Bildes darüber.
3. Er legt ein senkrechtes Raster über das Ganze, weit oder eng gefasst, ruhig oder bewegt, regelmäßig oder locker rhytmisch
4. Er schlägt mit dem Beitel ein Feld aus, lässt es stehen
5. Die anderen Felder werden entwickelt, es kommt wiederholt Farbe zum Einsatz, die im nächsten Schritt teilweise wieder weggenommen wird, manche Felder bleiben auch im Urzustand stehen
6. Die Arbeitsfläche wird immer kleiner, bis das Bild schließlich noch einmal im Ganzen auf den Prüfstand kommt und irgendwann vollendet ist
Das Interessante an Detlef Waschkaus Straßenszenen ist, dass sie so interessant sind. Denn sie zeigen ja keine spektakulären Ansichten, sind weder exotisch noch ungewöhnlich. Sie sprechen uns unmittelbar an, weil sie einen ganz weit verbreiteten Blick zeigen – den des Schnappschusses, aufgenommen en passant, auf ca. 1,75 m Höhe. Da sind wir gleich mittendrin im Geschehen, denn diese Wahrnehmung kennen wir, die hat unser Gehirn abgespeichert und die verbindet sich mit dem Kunstwerk vor uns und macht uns zu Akteuren der dargestellten Straßenszenen.
Dieses erlernte Erleben bricht DW, indem er uns eben doch kein Foto, sondern ein vielschichtiges, gerastertes Relief zeigt. Er verschränkt verschiedene räumliche Ebenen miteinander, stellt filigran ausgearbeitete Strukturen neben abstrakte Farb-Gesten. Der erste intuitive Pinselstrich steht gleichberechtigt neben dem fotografisch exakten Abbild. Und das ist so faszinierend, so spannend an diesen Arbeiten. Wir können spüren, dass alle Wahrnehmungsebenen gleich wichtig sind, dass sie gleichzeitig existieren.
Vor diesen Arbeiten spürt man die Faszination des Lebensraumes Stadt. Wir spüren die Vielfalt der Eindrücke und die Energie der Menschen, die sich vor dem Hintergrund der gebauten Umgebung entfaltet. Das strenge Raster der Bilder spiegelt die Enge der Großstadt wieder. Gleichzeitig ermöglicht das Raster diese große formale Bandbreite der künstlerischen Mittel, dieses Nebeneinander von reiner Emotion und technischer Notwendigkeit. Freiheit und Begrenzung, Individualität und Masse, kreativer Cluster und verschlingender Moloch – all das bedeutet Stadt, all das macht unser Leben hier aus.
Fazit: Es gibt auf den Philippinen einen Spruch: Je mehr Wahrheiten es gibt, desto besser. Es gibt nicht die eine Wahrheit. Wir sollten den Verkündern der einen Wahrheit prinzipiell misstrauen, andere Wahrheiten in Erwägung ziehen und unsere eigenen Schlüsse ziehen. Kunst zeigt dieses Prinzip exemplarisch auf, und deshalb ist sie so enorm wichtig für uns.
Dr. Kathrin Reeckmann